Honoré
de Balzac: Vater Goriot [Le père Goriot] in: Die Frau von dreißig Jahren - Vater Goriot u.a. Die menschliche Komödie III. btb 1998. Broschiert. 1272 Seiten ![]() ![]() |
Das Drama um Vater Goriot [Le père Goriot,
erschienen 1834] beginnt 1819 in der herunter gekommenen Pension der
Madame Vauquer in Paris. Unter ihren Pensionsgästen ist Eugène de
Rastignac, der sich bald als eine weitere Hauptperson des
Romans herausstellt. Er kommt aus verarmeten Landadel und will in Paris
sein Glück machen. Vater Goriot haust auch in der Pension. Er war ein erfolgreicher Nudelfabrikant und kam in der Revolution zu einem Vermögen, gab es aber aus, um seinen von ihm abgöttisch geliebten Töchtern die Einheirat in den Pariser Adel zu ermöglichen. Anastasie wurde zur Gräfin de Restaud, Delphine zur Baronin de Nucingen. Beide wollen mit ihrem Vater nichts mehr zu tun haben. Sie besuchen ihn heimlich nur um weiteres Geld locker zu machen. Sie symbolisieren die Sphären, in die Eugene erst noch vordringen will: Adel (de Restaud) und Geld (de Nucingen). Der weitere Pensionsgast Vautrin agiert in der Unterwelt von Paris und symbolisiert die Gegenwelt. Vautrin zeigt Eugène eine zwielichtige, ja sogar verbrecherische Alternative für seinen Aufstieg. Vautrin will zum geistigen Vater Eugènes werden. Doch Eugène versucht es mehr oder minder legal über ein Verhältnis mit Delphine. Monsieur Vautrin wird durch fintenreiche Manöver als Sträfling Jacques Collin entlarvt. Die alte Michonneau, auch in der Pension einquartiert, verrät ihn an die Polizei. Sie entpuppt sich als Polizeispitzel und Judas. Collins Verhaftung wird zur Szene Jesus auf dem Ölberg. |
„»Wer
hat mich ausgeliefert?« sagte Collin, und sein furchtbarer Blick
musterte die Versammelten. Er blieb auf Fräulein Michonneau haften: »Du
warst es, alte Heuchlerin! Du hast mir den künstlichen Schlaganfall
beigebracht, Canaille! ... Ich brauchte nur zwei Worte zu sagen, und du
wärst in längstens acht Tagen um einen Kopf kürzer. Doch ich vergebe
dir, ich bin Christ.” |
Durch den jammervollen Tod Vater
Goriots wird Eugène eines Anderen belehrt. Beide Töchter lassen sich in
dessen letzten Stunden verleugnen und selbst beim Begräbnis haben sie
keine Zeit für ihn. Eugène streift seine Skrupel ab und den Roman
beschließt eine zurecht gerühmte Schlussszene. |
„Allein
geblieben, schritt Rastignac den hügelig angelegten Kirchhof hinauf und
blickte auf Paris hinab, das sich an beiden Ufern der Seine ausbreitete
und schon in einigen Lichtern flammte. Fast gierig blickten seine Augen
nach der Gegend zwischen der Säule des Vendôme-Platzes und dem Dôme des
Invalides, dorthin, wo jene schöne Welt sich breitete, in die er hatte
eindringen wollen. Seine Blicke schienen den Honig dieses summenden
Bienenstockes sehnsüchtig aufzusaugen, und er sprach die großen Worte:
»Jetzt zu uns beiden!« Und als erste herausfordernde Tat begab sich Rastignac zu Frau von Nucingen, um mit ihr zu dinieren.” (S. 557) |
Bewertung |
Der Vater Goriot ist in seiner
grenzenlose Hingabe an seine Töchter eine großartige, tragische Figur,
durchaus mit Shakespeares King Lear vergleichbar. Balzac zeigt in Vater Goriot, dass es in der Adel- und Geldgesellschaft um Schein und Trug geht. Dies gilt im Kleinen auch für die Familien. Die üblichen Werte zählen wenig. Will man dabei sein, muss man mitmachen oder – wie Eugene am Romanende – sich dafür entscheiden, sich den Eintritt auf krummen Wegen zu verschaffen. Balzac gibt genaue Zeit- und Ortsangaben um die Handlung mit Fakten zu untermauern. Er betont eingangs: „Ach, vernehmt es: dieses Drama ist weder erfunden noch ein Roman. ›All is true‹; es ist so wahr, daß jeder bei sich selbst, in seinem eigenen Herzen vielleicht, die Grundelemente findet, aus denen es entstanden ist.” (S. 287) Die Authentizität wird gesteigert durch wörtlich zitierte Briefe und Nachrichten. |
Vergleich |
Die Idee einer geschlossenen
Gesellschaft wird in vielen Werken der Literatur durchgespielt. Balzac
betont: „Eine solche Menschenschar mußte im kleinen die Element der gesamten menschlichen Gesellschaft darstellen, und sie stellte sie dar.” (S. 301). Er führt dazu ein Motiv ein, das später auch Joseph Roth in Hotel Savoy aufgreift. Je höher hinauf die Pensionäre im Haus Vauquer kommen, desto schäbiger wird es. Will er (und Joseph Roth) damit ausdrücken, dass es in der gesamten menschlichen Gesellschaft ebenso ist? |
Stil & Sprache |
Balzac bedient sich einer
kraftvollen Sprache, die für seine Zeit sicher ungewöhnlich war. Beschreibung eines Zimmers im Haus Vauquer: „Jenes Vorderzimmer strömt einen Geruch aus, für den die Sprache keine Bezeichnung hat und den man »den Pensionsgeruch« nennen müßte” (S. 290). Im Zimmer von Vater Goriot war eine Tapete, „wie eine Vorstadtkneipe sie entrüstet abgelehnt hätte” (S. 302). Drastisch werden die Umstände zu Goriots letzte Stunden bis zu seinem Begräbnis. Eugène holt Madame de Nucingen persönlich ab um sie zu ihrem sterbenden Vater zu führen. |
„Sie brachen auf. Während eines Teils der Fahrt verharrte Eugène in Schweigen. – »Was haben Sie eigentlich?« fragte sie. – »Ich höre ihren Vater röcheln«, antwortete er bösartig .” (S. 526) |
Doch Balzac kann es auch philosophisch humorvoll. Jurastudent Eugène de Rastignac trifft Medizinstudent Bianchon. Eugène: „Mich plagen üble Gedanken.” – „Welcher Art? Solche Gedanken sind heilbar.” „Wie das?” – „Indem man ihnen nachgibt.” S. 416 |
Pariser Adel- und Geldgesellschaft |
Balzac zeigt in Vater Goriot,
dass es in der Adel- und Geldgesellschaft um Schein und Trug geht. Die
üblichen Werte (abendländisch? aufklärerisch? christlich? heute werden
sie oft als "europäisch" deklariert) zählen wenig. Will man dabei sein,
muss man mitmachen oder – wie Eugene am Romanende – sich dafür
entscheiden, krumme Wege zu gehen. Dazu ein paar Beispiele: |
Eugène machte den unverzeihlichen Fehler im Hause de Restaud Vater Goriot zu erwähnen. Die Gräfin verabschiedet ihn: »Wann immer Sie kommen, so dürfen Sie sicher sein, meinem Mann und mir die größte Freude zu bereiten.« Monsieur und Madame de Restaud begleiten Eugène. Als er draußen ist gibt der Graf dem Diner Maurice diese Anweisung: »Jedesmal, wenn dieser Herr sich melden läßt sind weder die Frau Gräfin noch ich daheim.« (S. 345) |
Madame la Vicomtesse de
Beauséant zu Eugène de Rastignac über Delphine, die Baronin de Nucingen: „Madame de Nucingen würde allen Schmutz zwischen der Rue Saint-Lazare und der Rue de Grenelle aufschlecken, nur um in meinem Salon empfangen zu werden” (S. 361). Ja, in der Pariser Gesellschaft gilt zum Hineinkommen oder Drinnenbleiben: „Krieche, ertrage alles”. Das Motto Eugènes (S. 401). |
Die Kontrastierung der
Pariser High Society mit der unteren Klasse in der Pension
(insbesondere innerhalb der Familie Goriot) zeigt, dass Wechsel nur
möglich ist, wenn man alle Wertvorstellungen preisgibt. Vater Goriot zählt mit Recht zu einem der großartigsten Romane der Weltliteratur, siehe beispielsweise William Somerset Maugham: Ten Novels and Their Authors. |
Vater
Goriot
finden die Leserinnen im Band III der zwölfteiligen btb-Reihe »Die
Menschliche Komödie«, S. 285 – 573, die aber derzeit (12/2020)
vergriffen ist. |
Links |
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Literatur |
Schröder, Achim (2001): Politische Geldkritik in der französischen
Literatur des 19. Jahrhunderts im Kontext von Balzac, Vallès, Zola und
Jarry. Diss. Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am
Main. |