Nathaniel
Hawthorne: „Dr. Heidegger's
Experiment” Aus: The Hawthorne Treasury: Complete Novels and Selected Tales – ![]() ![]() |
„Dr. Heidegger's Experiment” erschien zuerst anonym unter dem
Titel
„The Fountain of Youth” im Januar 1837 und wurde später im selben Jahr
in die Kurzgeschichtensammlung Twice
Told Tales aufgenommen. Die Kurzgeschichte gehört damit zu den
frühesten Werken des US-amerikanischen Erzählers Nathaniel Hawthorne
(1804 – 1864). |
An einem
Sommernachmittag führt Dr. Heidegger in seinem
Studio mit vier eingeladenen alten Freunden ein Experiment mit einem
Verjüngungswasser durch. Aus dem Verlauf des Experiments kann man
verschiedene Schlüsse ziehen. |
Dr. Heidegger, ein
außergewöhnlicher, alter Arzt hat vier ehrwürdige alte Freunde, drei
Männer und eine Frau, eingeladen. Er möchte mit ihnen ein Experiment durchführen. Sein Studio, in dem sie versammelt sind, enthält ein merkwürdiges Interieur. Markant sind vor allem
Das gewichtige Buch ist unbeschriftet, so dass man den Titel nicht nennen kann, es ist aber bekannt, ein Buch über Magie zu sein. Als das Dienstmädchen es einst abstauben wollte, geschahen merkwürdige Dinge und die Büste des Hippokrates im Studio warnte: „Untersteh dich!” Auf einem kleinen schwarzen Tisch im Studio stehen eine Vase mit Wasser und vier Champagnergläser. Das Sonnenlicht wird von der Vase auf die Gesichter der fünf um den Tisch Versammelten reflektiert. Heidegger bittet die Vier an einem Experiment teilzunehmen. Um es einzuleiten wirft er eine vergilbte Rose in die Vase. Die Rose war ihm vor 55 Jahren von Sylvia gegeben worden und blüht im Wasser im Nu wieder auf. Die Vier fragen in einer Stimme nach dem verwendeten Trick. Heidegger klärt auf, dass das Wasser aus einem Jungbrunnen in Florida stammt. Der Konquistador Ponce de Leon hatte einst nach ihm gesucht, aber nicht gefunden. Der Brunnen wurde inzwischen in der Nähe des Lake Macaco (heute: Okeechobeesee) in Florida entdeckt. Ein Bekannter hat Heidegger davon eine Probe gesandt. Er füllt die vier Champagnergläser und will seine Freunde in die Jugend zurückversetzen. Er selbst will nur beobachten und gibt ihnen den Rat, sie sollten ihren Vorsprung an Einsicht nutzen und zu Musterbeispielen an Tugend und Weisheit werden. Sie trinken und der Erfolg stellt sich unmittelbar ein: sie sehen jünger aus und verlangen nach mehr Wasser. Heidegger gewährt es ihnen und sie verjüngen sich weiter. Mr. Gascoigne, der Politiker, drischt Phrasen, von den man nicht entscheiden kann, ob sie von früher oder aus der Gegenwart stammen, da sich in den 50 Jahren an den politischen Phrasen nichts geändert hat. Colonel Killigrew blickt nach der jugendlichen Witwe Clara Wycherly. Mr. Medbourne, der frühere Händler und Spekulant, kalkuliert ein absurdes Projekt durch. Witwe Wycherly selbst giert danach den Verjüngungsprozeß fortzusetzen. Alle werden euphorisch, laut und hüpfen durch das Studio. Clara fordert Heidegger zum Tanz. Dieser fühlt sich zu alt dafür, aber die drei anderen bieten sich an und stürzen sich auf Clara. Im Tumult bricht das Glas mit dem Jungwasser, das Wasser verteilt sich am Boden. Die Verjüngung kehrt sich um, denn das Jungwasser hat nur vorübergehende Wirkung. Sowohl Heidegger als auch die Vier ziehen ihre unterschiedlichen Schlüsse aus dem Experiment.
|
Schauerliteratur |
„Dr.
Heidegger's
Experiment” ist eine Erzählung im Geist und Stil der Schauerliteratur
(gothic fiction), allerdings mit wissenschaftlichem Anspruch und einer
moralischen Botschaft. Den Charakter einer Schauererzählung gewinnt die Kurzgeschichte durch die ausführliche Beschreibung des Studios von Dr. Heidegger, das ihm anscheinend auch als Labor dient. Das Magische beherrscht den Raum. Durch die Damask-Vorhänge fällt das Licht genau auf die Vase und wird von dort auf die Gesichter der um den runden Tisch Versammelten geworfen. Hawthorne erweckt die Vorahnung einer Geisterbeschwörungsszene oder gar einer Schwarzen Messe. Nahezu alles im Raum hat auch übersinnliche Bewandtnis: der Spiegel, die Rose, Das Buch der Magie, die Büste des Hippokrates und erst recht das magische Wasser. Aber es entwickelt sich keine spirituelle Sitzung, sondern Heidegger will ein Experiment durchführen, lädt sie dazu mehrfach ein und erbittet die Mitwirkung der vier geladenen Gäste. Diese erwarten den von Heidegger gewohnten Humbug: eine Maus in einer Luftpumpe oder eine mikroskopische Untersuchung eines Spinnennetzes. Doch weit gefehlt. Heidegger plant ein Experiment um einerseits das erstaunliche Vermögen des Wassers zu beweisen und andrerseits das Verhalten seiner Gäste zu erproben. |
Dr. Heideggers Hypothese |
Jedem wissenschaftlichen
Experiment liegt eine Hypothese zugrunde, die bestätigt oder widerlegt
werden kann. Heidegger nennt sie nicht explizit. Unmittelbar davor
warnt er vor den Gefahren der Jugend. Er erwartet, dass seine vier
Freunde aufgrund der altersmäßigen Wiederholung Muster der Tugend und
Weisheit werden. Oder erwartet er, dass genau dies nicht der Fall sein
wird? Die Vier stimmen Heidegger ohne es zu sagen zu, denn sie wissen, wie schnell auf einen Fehler die Reue folgt. Bemerkenswert ist auch, dass Dr. Heidegger nicht am Experiment teilnimmt. Er hat es nicht eilig wieder jung zu werden. Unklar bleibt, wieviel Dr. Heidegger vor dem Experiment über das Wasser weiß. Er hat es wohl zumindest an der Rose schon ausprobiert. Er geht jedenfalls davon aus, dass die Verjüngung mit der Menge des Wassers zunimmt. Er hat genügend davon vorrätig. |
Interpretation des Experiments |
Der Leser gewinnt den Eindruck,
dass Heidegger mit dem Ausgang des
Experiments – trotz seiner Mahnung die Alterserfahrung zu nutzen –
schon gerechnet hat. Man mag schon über die Auswahl seiner Teilnehmer*innen diskutieren. Erhellende Ursprünge dazu gibt Arts and Leisure in "Nathaniel Hawthorne and the Fountain of Youth" ( ![]() Hawthorne gibt viele Indikatoren dafür, dass das Experiment ganz natürlich erklärbar ist. Der ungenannte Erzähler war nicht dabei und beruft sich vielfach auf andere. Ein paar wenige Beispiele: „if all stories were true” (S. 194) – „according to some authorities” (S. 194) – „it was fabled” (S. 195) – „it was well known” (S. 195). Er bekennt sich, ein "fiction-monger" (S. 195) zu sein, einer der ins Fabulieren kommt. Die Leser haben also keinen Augenzeugen. Die Teilnehmer des Experiments und Experimentator und Beobachter Heidegger können einer Illusion oder einem Wahn unterliegen. Dafür spricht das Folgende:
|
Magie
versus Wissenschaft |
Wie gerade ausgeführt wurde läßt
die Erzählung sowohl eine magische, wundersame Deutung als auch eine
nüchtern wissenschaftliche Erklärung zu. Einige Brücken zwischen den
beiden Bereichen sind in die Erzählung eingebunden. Die Ärzte standen früher (wenige auch noch heute) oft zwischen Alchemie, Quacksalberei und Wissenschaft, man denke nur an Paracelsus. In wiefern Dr. Heidegger einzigartig ist (erste Aussage der Erzählung) wird nicht explizit ausgeführt. Vielleicht ist es, weil er als Arzt, seinen wissenschaftlichen Beruf mit der Magie verbindet. Ich denke aber, dass diese Verbindung bis zum 19. Jhdt. nicht so ungewöhnlich war. Er hat offensichtlich als Arzt öfters daneben gelegen. Wie sonst könnten ihn seine verstorbenen Patienten in seinem Spiegel heimsuchen? Wie sonst wäre Sylvia nach seinem Rezept ziemlich rasch verstorben? Seltsam erscheint mir die Freundschaft Dr. Heideggers mit den vier Gästen, wenn man deren skandalöse Vergangenheit berücksichtigt. Im Studio Heideggers steht eine brozene Büste des Hippokrates. Hippokrates von Kos gilt als Begründer der Medizin als Wissenschaft und als Vorbild für alle Ärzte. Bei Heidegger ist die Büste des Hippokrates auch in seine Magie eingebunden.
|
Moralische Botschaft |
Der Ausgang des Experiments ist
mit Epikurs Ethik erklärbar. Das Jungbrunnenwasser ist deshalb so gefährlich, weil es nur vorübergehend wirkt. Epikurs Prioirität liegt auf der Vermeidung von Schmerz und Unlust. Wer heute in ein Sterne-Restaurant geht, und es sich morgen nicht leisten kann, wird es bereuen. Das Sterne-Restaurant verschafft für wenige Stunden Lust und Freude, das büßt man dann aber mit anhaltendem Leid. Also ist es besser gleich nicht ins Sterne-Restaurant zu gehen. Der Blick in den Spiegel (wenn man ihn nicht als illusionszerstörend interpretiert) weist die vier Teilnehmer also darauf hin, dass sie in Kürze doch wieder alt sein werden. Sie sollten lieber aus Jungwasser verzichten. Mit seinem Schluß aus dem Experiment, der vielleicht schon vorher feststand, zeigt sich Heidegger also Epikuraer. |
Schmetterling |
Ein Topos der Erzählung verdient
es noch erwähnt zu werden. Er zeigt die filigrane Kunst Nathaniel
Hawthornes, man könnte auch sagen: die Überladung seiner Prosa. Am Boden des Studios sitzt ein Schmetterling, der im späten Sommer seinen Tod erwartet. Durch die Zersplitterung der Vase wird er vom Wasser genäßt und flattert mit neuem Elan auf den schneeweißen Kopf des Arztes. Doch auch beim Schmetterling ist die Wirksamkeit begrenzt. Er fällt kurz darauf wieder auf den Boden. Gegen die Natur kann man nur begrenzt handeln, am Ende setzt sie sich durch, meist schneller, als man denkt. Der Schmetterling als solcher lebt zwischen einem Tag und zehn Monate. Seit der Antike ist der Schmetterling das Sinnbild der Wiedergeburt und Unsterblichkeit. Sie werden aber auch als Unglücksbringer und Todesboten angesehen, oft aber auch als Symbol des Neubeginns. |
Der Erzähler in
„Dr. Heidegger‘s Experiment” spricht den Leser oft direkt an. Er nimmt
die Leser unmittelbar mit ins Studio und ins Experiment. Sie sind
mittendrin. Dr. Heideggers Studio und sein Verhalten schwankt zwischen wissenschaftlicher Medizin und der Magie. Dr. Heidegger erweist sich als Epikuraer. Die Erzählung wird zurecht oft gelesen und gerühmt. Eine schöne Schauergeschichte mit einigem Gedankenfutter. |
Links |
![]() |
![]() |
![]() |
Text online: ![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
|
![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
Lake
Macaco aka ![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
Literatur |
Louise Hastings: "An Origin for
»Dr. Heidegger's Experiment«". American
Literature 9:4 (1938). S. 403-410 |
Kay
Tepait Juanillo: "The Identity of the Main Character in Nathaniel
Hawthorne's Dr. Heidegger's Experiment. A Linguistic Analysis". NOBEL Journal of Literature and Language
Teaching (2018) 9:2, S. 129–147 – ![]() |
Kevin Laskowski: Wasting the
Water of Life. On “Dr. Heidegger’s Experiment” and the allure of
immortality |
C.
R. Resetarits: Experiments in Sex, Science, Gender, and Genre:
Hawthorne’s “Dr. Heidegger’s Experiment,” “The Birthmark,” and
“Rappaccini’s Daughter”. Literary Imagination, 14: 2, 2012. S. 178–193
– ![]() |
Bei Amazon nachschauen | |
![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
![]() |